Schumann zum ersten mal richtig gespielt?
In der ersten Probe zu dem Klavierkonzert von Schumann machte ich eine Erfahrung bzw. Beobachtung, die mir nach entsprechender Reflexion höchst denkwürdig erschien, weil sie letztlich zu der überraschenden Erkenntnis führte, dass wir (sprich: ein völlig unbedeutendes Laienorchester in einer völlig unbedeutenden Provinzstadt und ein völlig unbekannter und unbedeutender Solist) in der Interpretationsgeschichte des Schumannkonzertes möglicherweise die ersten waren, die eine bestimmte Stelle korrekt ausführten, oder zumindest diesbezüglich zu einer kleinen Minderheit gehörten.
Es geht um ein winziges Detail, das dennoch ungeachtet seiner Unscheinbarkeit in der erwähnten Probe zu einer fast peinlichen Auseinandersetzung zwischen Dirigenten und Solisten führte. Rede und Gegenrede schaukelten sich auf, bis man sich - bevor es zu Handgreiflichkeiten kam – der Stimme der Besonnenheit folgend entschloss, den Streitpunkt aus der quasi öffentlichen Diskussion in eine interne zu verlagern, also einem privaten Gespräch zwischen Dirigenten und Solisten anzuvertrauen.
In der Tat war der erwähnte Streitpunkt auch nicht sonderlich für eine Diskussion „coram publico“ geeignet. Denn es ging um nichts weiter als die ziemlich marginale Frage, ob man einen Vorschlag auf die Zeit oder vor derselben zu spielen habe.
Konkret ging es um folgende Stelle:
Notenbeispiel 1 |
Notenbeispiel 2 |
Wo hat in Notenbeispiel 1 der Begleitakkord des Orchesters einzutreten: zusammen mit dem vorschlagenden Basston des Klaviers oder zeitgleich mit dem darauf folgenden Akkord?
Diese Frage bedarf der Klärung, zumal es eine Parallelstelle im 59. Takt gibt (Notenbeispiel 2), wo der Eintritt des Hauptthemas in C-dur ebenfalls durch einen Klaviervorschlag in der Bassregion vorbereitet wird.
In Vorahnung möglicher Schwierigkeiten hatte der Dirigent diese Parallelstelle (Notenbeispiel 2) inclusive der umgebenden Passagen an den Anfang der Probe gestellt, und es kostete an der erwähnten Stelle erhebliche Mühe und etliche Fehlversuche, die Orchesterspieler soweit zu bringen, ihr Pizzicato nicht etwa mit dem Vorschlag des Klaviers oder irgendwo im Niemandsland, sondern exakt mit dem Anfangsakkord des Themas zusammen zu spielen. Dass solches gut und richtig war, darüber bestand zwischen Dirigent und Solist intuitive und unangefochtene Übereinstimmung.
Letztere ging jedoch überraschend verloren, als es an die Erarbeitung des Anfangs ging.
Beim ersten Versuch geriet der den Themeneinsatz des Klaviers begleitende Ton im Orchester rein zufällig und diffus, worauf der Dirigent das Orchester anwies, den vorschlagenden Basston des Klaviers abzuwarten und synchron mit seinem (des Dirigenten) Schlag auf der Eins des Taktes einzusetzen.
Nach der so gearteten Ausführung der Stelle sträubte sich irgend etwas in mir, denn das klangliche Ergebnis befriedigte mich ganz und gar nicht. Vorsichtig machte ich den Vorschlag, das Orchester zusammen mit dem Vorschlagston einsetzen zu lassen, womit ich allerdings nun beim Dirigenten auf (verständliches!) Unverständnis stieß, denn warum sollten wir es jetzt plötzlich anders machen als an der zuvor geübten Parallelstelle?!
Obwohl ich mich mit meiner spontanen Meinung ziemlich sicher im Recht fühlte, fehlten mir ad hoc die schlagenden Argumente, so dass – wie bereits gesagt - nach einem wenig fruchtbaren Disput beschlossen wurde, die Klärung einem privaten Gespräch zwischen Solist und Dirigent vorzubehalten.
Nach der Probe hatte ich natürlich nichts Eiligeres zu tun, als mich auf die Partitur zu stürzen, um der Sache auf den Grund zu kommen.
Und siehe da: Was vordergründig so ähnlich schien, erwies sich bei Lichte betrachtet doch als fein unterschieden.
In Beispiel 1 nämlich ist für alle Violinen und Violen ein „kleines“ a notiert, welches tonlich exakt mit dem Bassvorschlag des Klaviers übereinstimmt, während Celli und Kontrabass diesen Ton eine bzw. zwei Oktaven tiefer mitzupfen. Offenbar besteht die Funktion des Orchesters an dieser Stelle darin, den vorschlagenden Basston des Klaviers zu stützen.
Anders an der Parallelstelle in Takt 59 (Notenbeispiel 2): Die Streicher haben (von unten nach oben) die Töne g c e zu zupfen und unterstützen damit die linke Hand des Klaviers auf der Eins des Taktes, nicht aber den vorschlagenden Klavierakkord, der in einer anders gearteten Variante des C-dur-Dreiklangs besteht.
Wem letzte Zweifel bleiben, möge beachten, dass im ersten Falle der Komponist den Vorschlag nach und im zweiten Falle vor dem Taktstrich notiert, womit auch dem letzten Skeptiker klar werden müsste, dass zwei verschiedene Arten der Ausführung intendiert sind, nämlich indem einmal das Orchester auf den Klaviervorschlag, das andere Mal später auf den Hauptakkord kommt.
Als ich solches durchschaut hatte, ging ich zu meinem Dirigentenkollegen, erläuterte meine Sicht der Dinge und stieß auf einsichtiges aber zunächst noch zögerndes Verständnis.
Zuhause hörte ich mir sämtliche Aufnahmen des Schumann-Konzertes an, die sich in meinem Plattenschrank bzw. meiner CD-Schublade befanden, natürlich in der geheimen Hoffnung, meine Meinung bestätigt zu finden.
Was sich als ein voller Schlag ins Wasser erwies...! Niemand, aber auch niemand führte den ersten Themeneinsatz des Klaviers so aus, wie ich es für richtig hielt und wie es dem Notentext entsprach, sondern stets fiel der begleitende Orchesterton nicht mit dem Vorschlag, sondern dem Hauptakkord zusammen.
Ob es nun Justus Franz mit Leonard Bernstein, Dinu Lipatti mit Herbert von Karajan oder Walter Gieseking mit Wilhelm Furtwängler waren, alle machten sie es ... falsch!
Ja, Sie haben recht gehört: Alle die vorhin genannten Größen machten es falsch, obwohl sie ansonsten durchaus verdiente und respektable Musiker sind bzw. waren. Ich will ihnen – um Himmels willen – nichts am Zeug flicken! Aber in dem einen Punkt haben sie nun alle mal schlicht und einfach ... geschludert. Es sei denn, alle führten diese Stelle so mit voller Absicht aus, aber dann würde es sich um eine bewusste Abweichung vom Notentext handeln, was aber im Zeitalter der Werktreue eher unüblich wäre.
Ich bleibe dabei. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit liegt einfach eine Nachlässigkeit vor, und es dazu kommen konnte, wurde mir in nächsten Probe auf merkwürdige Art klar:
Die bewusste Stelle (Notenbeispiel 1) nahte. Alle Sinne waren konzentriert. Aber was war das?! Nanu, da stimmte doch etwas nicht! Und siehe da: der Pianist (also meine Wenigkeit bzw. Hochnäsigkeit...) hatte – obwohl er vorher ausführlich erklärt hatte, wie es zu sein habe - genau das vollbracht, was alle anderen auch schon gekonnt hatten, nämlich den Klaviervorschlag einfach intuitiv und unreflektiert vor(!) der Zeit zu nehmen, so dass Dirigent und Orchester keine andere Wahl hatten, als auf die volle Zeit des nächsten Taktes zu kommen. Ich musste die Probe unterbrechen und kleinlaut zugeben, dass der Fehler bei mir gelegen hatte.
Hieraus lernte ich, dass es bewusster Bemühung und Konzentration bedarf, um diese Stelle korrekt zu spielen. Wenn man sie einfach nur so spielt, wie es sich quasi „von selbst“ ergibt, wird sie falsch, wie zahlreiche Plattenaufnahmen beweisen. Mir ist jedenfalls keine bekannt, auf der es richtig wäre, obwohl ich natürlich nicht alle Aufnahmen kenne.
Interessant wäre nun die Frage, ob diese Stelle überhaupt schon jemals korrekt ausgeführt worden ist, oder ob dies der Aufführung in einer völlig unbedeutenden Kleinstadt im Bergischen Land durch ein völlig unbedeutendes Laienorchester und einen völlig unbedeutenden Klavierspieler vorbehalten bleibt.
Freilich ist Letzteres wenig wahrscheinlich, weil dies voraussetzen würde, dass auch Clara Schumann, die berühmte Erstinterpretin des Werkes und Gattin des Komponisten, falsch gespielt haben müsste, und das kann man sich nun beim besten Willen nicht vorstellen. Denn wäre ihr aus Nachlässigkeit der gleiche Fehler unterlaufen wie so vielen anderen, so hätte Robert Schumann sicher seiner Frau demonstrativ die Noten unter die Nase gehalten.
Wie dem auch sei, jedenfalls zeigt das vorliegende Beispiel, wie leicht es möglich ist, dass sich mehr oder weniger krasse Fehler auf Tonträgeraufnahmen einnisten können, ohne dass dies irgend jemandem auffällt. Offen gestanden, auch mir wäre dieses winzige Detail beim Anhören von Aufnahmen des Schumannkonzertes nie aufgefallen, wäre nicht meine Aufmerksamkeit durch das Erlebnis bei der oben erwähnten Probe geschärft worden.
„Papier ist geduldig.“ lautet ein altes Sprichwort, das in gleicher Weise auch auf das Plastikmaterial zutreffen dürfte, aus dem CD’s hergestellt werden. Denn auf CD ist so manches im Umlauf, was einer kritischen Prüfung nicht standhält und als fehlerhafte Wiedergabe eines Notentextes oder als Fehlinterpretation der Absicht des Komponisten klassifiziert werden muss.
Im Januar 2001 äußerte Alfred Brendel sich in einem Interview folgendermaßen: „ Ich möchte dahin kommen ,dass das Stück mir sagt, was ich machen soll, und nicht ich dem Stück sage, ich stehe hier, ich sehe diese Ecke, und vielleicht sollte sie anders aussehen, als sie tatsächlich aussieht. Ich will nicht dem Stück sagen, wie es sein soll, und dem Komponisten nicht, wie er hätte schreiben sollen.“
Dies ist eine gesunde Maxime, gegen die aber leider allzu oft verstoßen wird und zwar nicht nur von Dilettanten oder Studenten sondern durchaus auch von international renommierten Meistern ihres Fachs.